Adolf Metzner | © DIE ZEIT, 03.05.1974 Nr. 19

Schiedsrichter sind überfordert

Fernsehkameras als Hilfsmittel

Das Foul in Hamburg erfolgt vor der Strafraumlinie. Der Schiedsrichter, weit entfernt, gibt trotzdem den spielentscheidenden Elfmeter

Beide Halbfinalspiele um den Pokal des Deutschen Fußballbundes (DFB) wurden durch Strafstöße entschieden. Bei beiden Elfmetern, gab es heftige Proteste der unterlegenen Mannschaften. Besonders die markigen Männer des FC Bayern taten sich hier hervor. Aber gerade sie hatten überhaupt keinen Grund zu ihrer Aufregung, die auch noch dazu diente, dem Schützen die Angst vor dem Elfmeter einzutreiben. Aber Kalb von der Frankfurter Eintracht behielt kaltes Blut und verwandelte, wie es so schön heißt, sicher.

Ganz anders in Hamburg, dort geschah das Foul eindeutig vor der Strafraumlinie, so daß nur ein Freistoß hätte gegeben werden dürfen. Schiedsrichter Biwersi hat also durch eine klare Fehlentscheidung den Hamburger Sportverein ins Endspiel gepfiffen. Nun hat niemand an seinem guten Willen gezweifelt, ein paar Offenbacher Fans vielleicht ausgenommen, die dem smarten HSV-Präsidenten Dr. Krohn zu Unrecht eine Manipulation zutrauen würden.

Im Gegensatz zu den Bayern legten die Offenbacher gegen die Wertung des Spieles Protest ein, obwohl sie wissen konnten, daß bei der sturgenialen Erfindung des „Tatsachenentscheides" des Schiedsrichters jeder Protest zwecklos ist. Und so geschah es auch hier — der Pfeifenmann erklärte, er habe das Foul im Strafraum gesehen, Punktum — basta, der Protest war damit abgelehnt. Auf den Einwand, daß die Fernsehaufzeichnung doch eindeutig beweise, daß das gravierende Delikt außerhalb des Strafraumes erfolgt sei, ließ sich der Referee erst gar nicht ein. Das Fernsehen, so erklärte er, sei für ihn und auch für den Deutschen Fußballsport kein Beweismittel.

Hier sind wir nun bei einem Punkt angelangt, wo aus Sinn Unsinn, aus Wohltat Plage wird. Hunderttausende haben auf ihren Bildschirmen deutlich gesehen, daß sich der „Schiri" geirrt hat, er aber beharrt auf seinem Irrtum und bekommt prompt recht. Kickers Offenbach hat nun sogar Berufung eingelegt, wird aber — das kann man unschwer vorhersagen — wieder genauso abgeschmettert werden. Der Offenbacher Präsident hat inzwischen erklärt, daß er erreichen wolle, daß den Linienrichtern mehr Macht gegeben wird, das gleiche fordert Franz Beckenbauer, der zur Zeit mit den „Schiris" in Fehde liegt.

Ganz anders als Biwersi ließ sich sein sympathischer Kollege Aldinger aus. Der wackere Schwabe, den auch Morddrohungen nicht schrecken konnten, gab zu bedenken, daß das Spiel viel schneller geworden sei und der Schiedsrichter sich an der Grenze der Überforderung befinde. Wenn man etwa an die weiten 40-m-Pässe denkt, wo soll da der geplagte arme Mann mit der Trillerpfeife noch auf der Höhe des Balles sein? Aldinger hält auch Hilfsmittel, die bei unklaren Situationen zur Entscheidung herangezogen werden sollten, für notwendig.

Der eine Schiedsrichter, der sich irrte, besteht auf überholtem Recht, der andere, der sich nicht irrte, gibt freimütig die bestehenden Mängel zu und macht Verbesserungsvorschläge.

Warum klammert sich nun der Fußballverband derart an eine Regelung, die in der Ära des Fernsehens einfach überholt ist? Nun, es würde Proteste hageln, wenn der „Tatsachenentscheid" ohne weiteres aufgehoben würde.

Was aber könnte geschehen? Zwei Schiedsrichter wie beim Eishockey, das ja das schnellste aller Spiele ist, wurden vorgeschlagen. Aber auch beim Eishockey gibt es krasse Fehlentscheidungen. Jetzt bei den Weltmeisterschaften erzielte beim Spiel Schweden-UdSSR der russische Stürmer  den Ausgleich zum 1:1, wie im Fernsehen klar zu erkennen war, mit dem Fuß, was verboten ist, und nicht mit dem Schläger. Beim Endspiel um den Europapokal der Handballer irrten sich die beiden Schiedsrichter aus der DDR mehrmals.

Das menschliche Auge kann sich eben täuschen, umso leichter, je schneller das Spiel ist. Torrichter wurden vorgeschlagen, aber sie hätten in Hamburg nur bestätigen können, daß der Ball beim Strafstoß im Tor gelandet sei, aber nicht, daß der Strafstoß zu Unrecht gegeben wurde.

Andere möchten die Linienrichter an die Torauslinien postieren, da sie an den Seitenlinien zu wenig Entscheidungsfreiraum hätten. Immerhin winken sie nicht nur beim „Aus" des Balles, sondern sie heben unter anderem die Fahne beim Abseits und sind hier eine wertvolle Unterstützung des Unparteiischen. Aber genügt das? Als Torrichter sind sie aber in ihrer derzeitigen Position von recht zweifelhaftem Wert, wie die deutsche Nationalmannschaft beim Endspiel um die Weltmeisterschaft in Wembley 1966 erfahren mußte. Der Schweizer Schiedsrichter Dienst konnte in der Verlängerung beim Stande von 2:2 eine Szene am deutschen Tor nicht entscheiden, er lief zum russischen Linienrichter, der von seinem Standpunkt aus unmöglich die Situation genau übersehen konnte. Trotzdem plädierte der Sowjetrusse für Tor gegen Deutschland und der Schiedsrichter schloß sich diesem Urteil in letzter Instanz an, das, wie dann die Fernsehkameras zeigten, ein klares, Fehlurteil war. Der Ball hatte sich zu keinem Zeitpunkt mit seinem vollen Umfang im Tor befunden.

Damals empfahl ich in dieser Zeitung, doch während des Spiels die Fernsehkameras als Hilfsmittel für den Schiedsrichter zuzulassen. Ein bekannter Journalist nahm diesen Vorschlag zum Anlaß für eine Glosse, in der er sich über so viel Unverstand mokierte. Inzwischen sind aber die Anhänger, die dafür eintreten, dieses „Hilfsmittel", das dem menschlichen Auge nun einmal überlegen ist, zuzulassen, immer häufiger geworden. Man stelle sich nur einmal vor, das Endspiel in München um die Weltmeisterschaft würde wiederum durch ein falsches Schiedsrichterurteil entschieden.

Gegen Tor- und Strafraumkamera könnte eingewandt werden, dass sie den Spielfluß zerstöre. Selbstverständlich dürfte sie nur ganz selten zu Rate gezogen werden. Denkt man an die echten oder vorgetäuschten Verletzungen mit ihrer Theatralik, den hinzurennenden Masseuren und Trainern, so machen diese viel mehr an Unterbrechungen aus als die wenigen Male, wo die Fernsehkamera befragt werden müßte.

Übrigens besteht das American-Football, das ebensolche Zuschauermassen in den USA anzieht, wie unser Fußball in Europa und Südamerika, aus einem fortwährenden Wechsel von Pausen, die der Beratung und Festlegung des Angriffschemas dienen und Phasen hochgepeitschter Angriffsstürme, die manchmal nach Sekunden schon wieder gebremst werden.

Was das Regelwerk anging waren die Fußballer jeder Änderung gegenüber über 100 Jahre lang sehr mißtrauisch und verhielten sich recht konservativ, was sich für die Ambivalenz des Spieles und damit auch für seine Attraktivität als richtig erwies. Die Abseitsregel wurde einst modifiziert und in letzter Zeit der Austausch von Spielern eingeführt, gegen den man sich so lange sträubte, weil man auch hier einen Schaden für das Spiel befürchtete.

Ehe man aber ein solch schreiendes Unrecht zuläßt, wie es im Hamburger Volksparkstadion der Mannschaft der Offenbacher Kickers widerfuhr  sollte man vom Deutschen Fußballbund aus zumindest versuchsweise die Fernsehkamera als Hilfsmittel des überforderten Schiedsrichters einführen. Schließlich hängen an einer solchen Fehlbeurteilung nicht nur Sieg; oder Niederlage in einem Spiel, sondern auch noch der Verlust Hunderttausender von Mark für den benachteiligten Verein.

 

http://www.zeit.de/1974/19/Schiedsrichter-sind-ueberfordert